Wohnungslos in Wien – ein Leben im Schatten

(Foto: ©Heinke Wolf)

Wäre Norbert auf der Straße an mir vorbei gelaufen hätte ich niemals gedacht, dass dieser Mann noch im Jänner zu einem der elftausend Obdachlosen in Wien gehört hat. Mit seinen graumelierten Haaren, gebräunter Haut, schicken Klamotten und Lachfalten um die hellbraunen Augen erinnert er mich an meinen Vater. Beide sind Männer im gestandenen Alter und wirken mit ihrer stilvollen und positiven Ausstrahlung wie jemand, den man gerne um sich haben möchte. Der Unterschied zwischen den beiden: Norbert, unser Guide an diesem Nachmittag, hat 2 ½ Jahre ohne gemeldeten Wohnsitz gelebt.

Bei der Tour geht unser Guide mit uns zu Drei bis Vier wichtigen Plätzen. (Foto: ©Heinke Wolf)

Wenn Norbert von seinem Leben erzählt klingt es ziemlich normal. Aufgewachsen ist er im Burgenland in einer Großfamilie. Als der Bruder, der mit seinen Geschwistern gelernt hat, musste er schnell Verantwortung übernehmen. Trotz wenig Geld hat er nie das Gefühl gehabt, dass es an irgendetwas fehlt, erzählt er uns. Als junger Mann ist er nach Wien gezogen, hat dort in verschiedenen Jobs gearbeitet und zum Schluss ein erfolgreiches Unternehmen geleitet. Weil sich sein Geschäftspartner plötzlich gegen ihn gestellt hat, war auf einmal fast alles weg. Das Geld und kurz darauf auch die eigene Wohnung.

Norbert war einer der sechzehntausend Obdachlosen in ganz Österreich. Die Dunkelziffer liegt sogar im dreistelligen Bereich. Davon leben elftausend Menschen in Wien in existenzieller Unwürdigkeit. Die Gründe in Obdachlosigkeit zu geraten sind vielfältig: An erster Stelle steht der Jobverlust; danach folgen Abhängigkeit, Schulden, Krankheiten und familiäre Umstände.

„Shades ist das englische Wort für Zwischentöne. Diese wollen wir mit unseren Touren Zeigen“

– Perrine Schober, Geschäftsführerin der SHADES TOURS

Unser Guide zeigt uns ein gezeichnetes Bild eines „typischen“ Obdachlosen. Gezeichnet deshalb, weil es bei SHADES TOURS bewusst nicht um ein „zur Schau stellen“ der Betroffenen geht, sondern um das Informieren. Der typische Obdachlose sitzt neben seinem Einkaufswagen an der Bim-Station, ist ungepflegt und trinkt um zu vergessen. Was Vielen wohl als erstes Bild im Kopf erscheint, ist eigentlich nur die schlimmste von drei Formen. Denn was bedeutet „Obdachlos“? Eben ohne Obdach, also ohne gemeldeten Wohnsitz, zu sein.

Obwohl wir harte Obdachlosigkeit am schnellsten wahrnehmen, ist sie nur die Spitze des Eisbergs

Das stereotype Bild ist die erste Form, die harte Obdachlosigkeit. Die Zweite die „versteckte Obdachlosigkeit“. Hier wohnen Betroffene im besten Fall ungemeldet bei Freunden oder Familien. Im schlimmsten in Zwangsgemeinschaften, in denen Gewalt und Gefälligkeiten vor allem für Frauen zum Alltag gehören können. Als Drittes können die Wohnungslosen für zwei Euro pro Nacht in sogenannten Notschlafstellen unterkommen. Sie müssen allerdings am nächsten Morgen mit all ihren Sachen wieder ausziehen und sich an feste Zeiten halten.

Der amerikanische Psychologe Maslow hat vor langer Zeit die sogenannte Bedürfnispyramide aufgestellt. Hier sind Sicherheitsbedürfnisse (ein eigenes Dach über dem Kopf) als zweitwichtigste Ebene genannt. Das Wichtigste sind physiologische Bedürfnisse. Also auch körperliche Gesundheit. Die wird jedoch meistens beeinträchtigt, wenn man auf der Straße lebt, erklärt uns Norbert. Hautkrankheiten, offene Wunden durch langes Sitzen oder viel Laufen (viele Betroffene wollen nicht auch noch Schwarzfahren), schwere Infektionen und Diabetes durch schlechte Essgewohnheiten sind leider keine Seltenheit.

Louisebus, Canisibus und Sozialarbeiter helfen den Obdachlosen

Um dem entgegenzuwirken, oder bereits Erkrankten zu helfen, fährt der Louisebus der Caritas an fünf Tagen der Woche zu fixen Plätzen und betreut Bedürftige ohne Versicherung. Ist ein stationärer Aufenthalt notwendig, oder gar eine OP, werden die Männer und Frauen zum Krankenhaus der Barmherzigen Brüder weitergeleitet. Dort werden sie ohne Stigmatisierung top versorgt. Denn obwohl jedes Krankenhaus bei lebensbedrohlichen Notfällen Hilfe leisten müsste wird der Begriff lebensbedrohlich oft eher subjektiv ausgelegt.

Eine weitere Einrichtung der Caritas ist der Canisibus. Der Suppenbus ist an 365 Tagen im Jahr unterwegs um den Menschen eine heiße Mahlzeit zu bringen. Sie stehen meist an den Hotspots in Wien und vermitteln dadurch auch eine gewisse Sicherheit. Zudem gibt es noch weitere Angebote, so wie das Franziskaner Kloster oder die Gruft, NGOs, kirchliche Institutionen und freiwillige Helfer, die Bedürftige mit einer Mahlzeit versorgen.

„In Wien muss also Gottseidank niemand Hungern“

meint Norbert. Er lebt inzwischen in einem Übergangswohnheim und spart das Geld, was er als Guide verdient, für seine nächste eigene Wohnung. In diesen Übergangswohnheimen mit geteilter Küche und Bad sind die Bewohner gemeldet. Damit haben sie den ersten Schritt aus der Obdachlosigkeit gemeistert. „Ich bin froh endlich wieder in einem abgetrennten Raum zu schlafen und alltägliche Dinge zu erledigen“. Denn Zähne putzen, Duschen, Wäsche waschen und eine komplette Nacht schlafen sind ohne Obdach nicht selbstverständlich. Die Angst vor Übergriffen hält genauso wach, wie Gedanken und Erinnerungen an schreckliche Dinge, die man erlebt hat.

„Hier stand das Goldbergsche Stiftungshaus, eine Burse für arme Studenten“ – der Ursprung des sozialbetreuten Wohnens in Wien (Foto: ©Heinke Wolf)

„Du entscheidest, wie weit die Situation dich verändert.“

Norbert hat den Weg aus der Obdachlosigkeit gemeistert. Wenn er zurückblickt erzählt er über schlimme Dinge und man merkt an seiner Stimme, dass es ihn nach wie vor sehr bewegt. Mich beeindruckt an dem Nachmittag aber nicht nur, was er uns über Obdachlosigkeit in Wien erzählt. Mich beeindruckt Norbert. Und, dass er trotz all dem nicht den Mut verloren hat. „Nur weil ich in einer Notunterkunft schlafe, heißt das nicht, dass ich mich auf einmal anders verhalten muss. Ich möchte mir trotzdem zum Beispiel die Zähne putzen und mich waschen. Aber vor allem will ich weiter offen auf andere zu gehen und helfen.“