Die schrecklich schöne Welt des Balletts

"Ballet Shoes" by Kryziz Bonny is licensed under CC BY 2.0.

Schwanensee, sexuelle Übergriffe und Sklavenmentalität – immer wieder tauchen Horrorgeschichten aus der Welt des Balletts auf. Auch die Wiener Staatsoper geriet 2019 in den Fokus der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien sowie der eigens angeordneten Sonderkommission des früheren Kulturministers Gernot Blümel (ÖVP).

Anorexie und Morddrohungen

Aus der ganzen Welt kommen zahlreiche Tanzschüler*innen um eine achtjährige Ausbildung an der traditionsreichen Kulturstätte zu absolvieren und Zugang zu den berühmtesten Kompanien zu erlangen. Das Wiener Wochenblatt Falter enttarnte vor drei Jahren die sadistischen Lehrmethoden und den massiven Druck, dem die Kinder täglich ausgesetzt wurden. Die ehemalige Ballerina Gabriele Haslinger sprach im Interview mit Falter von „sowjetischem Drill und zaristischer Pädagogik“ die von diversen Vertreter*innen der „russischen Schule“ an der Ausbildungsstätte ausgeübt wurden. Die Vorwürfe erstrecken sich von Gewalt, öffentlichen Demütigungen bis hin zu sexuellem Missbrauch. Schüler*innen seien förmlich zur Anorexie angestiftet worden– mit Vorschlägen wie eine Woche lang nur Wasser und Kiwis zu essen oder nur eine Semmel am Tag zu sich zu nehmen. Besonders zwei Lehrer*innen standen im Vordergrund der Ermittlungen. Eine Frau, die bereits vor mehreren Jahren auffällig geworden war, da sie die Kinder unter anderem getreten, blutig gekratzt und an den Haaren gerissen haben soll, jedoch erst nach vielfachen Abmahnungen im Jänner 2019 endgültig entlassen wurde. Sowie ein Mann, der suspendiert wurde, da er einem Schüler Pornos gezeigt habe, ihn geküsst und vor ihm masturbiert habe. Die notfallmedizinische Nachbehandlung bei Unfällen sei kaum vorhanden gewesen, ungeachtet internationaler Standards mangelte es an psychologischen und ernährungswissenschaftlichen Konsultationsoptionen für die Kinder. “Im Grunde hätten wir diesen Laden sofort zusperren müssen”, äußerte sich ein anonymer Mitarbeiter der Kinder- und Jugendanwaltschaft.

Auch in Russland zieren Ballettskandale und Intrigen häufig die Titelseiten. Im Jahr 2013 gab es einen Säureanschlag auf den künstlerischen Leiter Sergej Filin und die Top-Ballerina des Bolschoi-Theaters Svetlana Lunkina habe Morddrohungen erhalten. Über Jahrhunderte hat das Bolschoi Morde, Selbstmorde auf der Bühne, Brände, Kriege, Bestechungsversuche und totalitäre Regime überstanden. Nichtsdestotrotz wird es weiterhin in Russland als ein Juwel der nationalen Kultur betrachtet. „Große Kunst erfordert schrecklichen Druck“, sagte der Historiker Simon Morrison im Interview mit CBC Radio. Doch lohnt sich dieser Druck? Es scheint als würden Eifersucht, Neid und Gewalt den Ton in der Ballettwelt bestimmen.

Eine neue Ära

Kunst und Tradition führen immer wieder zu kontroversen Diskussionen. Ist es in Ordnung auf der Bühne „Blackfacing“ zu betreiben oder sexistische und rassistische Stereotypen zu bedienen, einfach weil das Stück als „Klassiker“ gilt? Sollte die Kunst sich nicht der Zeit und Gesellschaft entsprechend anpassen? Die Ermordung von George Floyd im Mai 2020 animierte eine Handvoll Tänzer*innen dazu gemeinsam eine Art Manifest zu verfassen, welches der internationalen Ballettwelt hochpolitische Fragen vor die Augen hält- das „De la question raciale à l’Opéra national de Paris“ offenbart und kritisiert Diskriminierung, Rassismus sowie den gedankenlosen Umgang mit Traditionswerken wie „La Bayadère“ oder „Schwanensee“. Auch der Generalintendant der Pariser Oper Alexander Neef injizierte eine externe Untersuchung der Rassismus-Vorwürfe aus dem Tanzdepartment, an der sich ein großer Teil des Opernpersonals beteiligte. Der Umschwung in eine neue Ära des Balletts scheint jedoch etwas verspätet, schließlich sind Ethnoklischees und „White Privilige“ auf der Bühne sowie im Parkett kein Geheimnis. Es ist schon lange überfällig die Geschlechterbilder, Gesellschaftsentwürfe und Kolonialperspektiven der unantastbaren Meisterwerke flächendeckend zu boykottieren und nicht nur in einzelnen Theatern. Es ist an der Zeit, dass Ausbildungsakademien jene Nachwuchstalente heranziehen, welche die Diversität der aktuellen Gesellschaft spiegeln. Für eine erfolgreiche Umstrukturierung gilt es, traditionelle Ensemble-Rangordnungen aufzulösen, das Top-Down-Regime außer Gefecht zu setzen und vor allem die Ausbilder*innen für ihre Verantwortung zu sensibilisieren. Sie sind diejenigen, die das Wohlbefinden der Tänzer*innen in ihren Händen halten und ihre Karrieren ankurbeln oder zerstören können.

Diese neue Ära ist umso bedeutsamer als die Ballettwelt in Zukunft sich mit ganz neuen Herausforderungen auseinandersetzten muss. Die LGBTQIA+ Community findet sich natürlich auch in der Ballettszene wieder und auch genderfluide Tänzer*innen oder Transpersonen müssen rollentechnisch miteinbezogen werden und verdienen Sichtbarkeit. Diese Fragen muss sich sowohl die Welt des klassischen Tanzes stellen als auch der Rest der Mehrheitsgesellschaft. Um es in den Worten der Ex-Tänzerin Ruth Theresa Howard, Amerikas maßgebender „Black Lives Matter“-Vorkämpferin in der Ballettwelt, zu sagen: „Es ist an der Zeit, dass die alte Garde abgelöst wird.“

Beitragsbild: „Ballet Shoes“ by Kryziz Bonny is licensed under CC BY 2.0.

Quellen:

https://www.sueddeutsche.de/kultur/wiener-staatsoper-ballett-kindesmisshandlung-1.4404234

https://www.sueddeutsche.de/kultur/ballett-rassismus-1.5204489

https://www.derstandard.at/story/2000101112225/schwere-vorwuerfe-gegen-die-ballettakademie-der-wiener-staatsoper

https://www.welt.de/kultur/buehne-konzert/article113314180/Bolschoi-Ballerina-flieht-vor-Morddrohungen.html

https://www.cbc.ca/radio/thecurrent/the-current-for-december-26-2016-1.3912711/dancing-through-centuries-of-scandal-and-politics-at-the-bolshoi-ballet-1.3912717 https://www.diepresse.com/1490887/sergej-filin-war-ein-provokateur