Alt, einsam, abgeschottet wegen Corona – oder?

Seit drei Wochen gilt aufgrund des Corona-Viruses in Österreich ein Besuchsverbot für Pflege- und Betreuungseinrichtungen. Auch zu Hause sollen Pflegebedürftige soziale Kontakte meiden. Fernkommunikation ist nun das Tor zur Außenwelt.

„Wir müssen alle zusammen halten und positiv denken. Ich bin Optimistin und denke, dass es in zwei bis drei Monaten vorbei ist“, sagt eine ungarische Pflegerin im Gespräch mit goschat!. Sie ist eine von ca. 13.000 ausländischen 24-Stunden-Betreuungskräften in Wien und wechselt sich für gewöhnlich alle zwei Wochen mit einer Kollegin ab. Schon vier Wochen lang kümmert sie sich durchgehend um ihre hochbetagte Klientin, da die Kollegin nicht einreisen darf. Zu ihrer Entlastung erhält ihr Pflegling täglich Anrufe von Ehrenamtlichen des Vereins Jung & Alt – Generationen im Dialog.

Besuchsdienste entlasten Angehörige und Betreuende von Pflegebedürftigen.

Jung & Alt ist ein Besuchsdienst für psychosoziale Altenbetreuung mit den Spezialgebieten Hochaltrigkeit und Demenz. Der Verein ist nicht gewinnorientiert und finanziert sich selbst. Etwa 120 Vereinsmitglieder besuchen regelmäßig in Pflege- und SeniorInnenwohneinrichtungen, Krankenhäusern und zuhause. Auch Einkäufe und Erledigungen übernehmen sie. Die Besuche werden vielfältig gestaltet: z. B. Gespräche führen, Vorlesen, Erinnerungs- und Biographiearbeit, Spazieren gehen, Singen. Im Vordergrund stehen die Bedürfnisse der KlientInnen.

Die Quarantäne-Maßnahmen haben Jung & Alt veranlasst, den Besuchsdienst auf telefonische Begleitung umzustellen. „Ist Telefonieren nicht möglich, kann man Postkarten und Dinge wie Stofftiere schicken“, sagt Vereinsgründer MMag. Alexander Popper gegenüber goschat!. Er ist Alterswissenschafter, Erwachsenenbildner, bildender Künstler, WWF-Outdoorpädagoge, Supervisor, Coach und Inhaber von persoenlich-betreut.

Seit 25 Jahren betreut er Hochaltrige mit unterschiedlichsten Einschränkungen. „Wenn Leute privat wohnen, ist die Situation schwieriger, weil im Einzelfall zu entscheiden ist. Rechtlich ist es ein totaler Grenzgang, denn es ist nicht erlaubt, Leute zum Spaß zu treffen, aber Hilfeleistungen sind erlaubt. Wenn man sich im Garten treffen kann und Abstand hält, stellt sich die Frage: Ist das eine extrem wichtige Hilfeleistung für Angehörige oder ein Treffen nur zum Spaß?“, so Popper.

SeniorInnen in Einrichtungen werden bei der Videotelefonie unterstützt und kreativ unterhalten.

Die Wiener „Häuser zum Leben“ sowie Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen der Caritas Socialis und der SeneCura Gruppe bieten Videoanrufe per Skype an. Eine SeneCura-Aktion namens „#SeneCuraKinderGruß“ lässt Eltern Grußbotschaften ihrer Kinder per Facebook übermitteln.

MMag. Popper telefoniert selbst mit KlientInnen, z. B. 2- bis 3-mal wöchentlich mit einem Bewohner einer Pflegeeinrichtung: „Wir machen geistige Ausflüge, Erinnerungsausflüge in der Fantasie. Mit mir reist der Klient zurück an Orte, die er kennt. Schöne Bilder, die mein Gesprächspartner abgespeichert hat, werden in dieser Biographiearbeit abgerufen. Als er sein Zelt in der Mongolei verlässt, sieht er blühende Wiesen vor sich. Oder er blickt von einem Berggipfel hinab.“

Man kann dem Menschen nicht die Seele abdrehen.

„Menschen in Pflegeeinrichtungen sind auf unterschiedliche Formen von Hilfe angewiesen. Bei einer Seheinschränkung muss vorgelesen werden. Bei einer motorischen Einschränkung muss der Brief in die Hand gegeben werden. Ist die kognitive Einschränkung stark, muss vorgelesen und erklärt werden“, sagt Popper. „Fernkommunikation erfordert oft Assistenz – eine Zusatzbelastung, die für das Pflegepersonal zugleich entlastend sein kann: Spüren die Betreuten den Kontakt zur Außenwelt, geht es ihnen seelisch besser. Das kommt wiederum der Pflege zugute.“ Popper betont, dass es prinzipiell immer so sein soll.

„Es gibt Besuchsdienste und Kontakte mit Angehörigen deshalb, weil sie ganz essenziell für das Befinden der Pflegebedürftigen sind. Dem Menschen kann man nicht sozusagen für Wochen die Seele abdrehen. Er ist nicht nur Körper. Das Leben geht in der Corona-Krise auch seelisch und geistig weiter.“

Die Arbeit mit Hochbetagten ist für den Alterswissenschafter eine Gratwanderung zwischen Sicherheit und Lebensqualität – nicht nur in Krisenzeiten. Man soll das Leid, Folgeschäden und negative Auswirkungen durch die Corona-Maßnahmen berücksichtigen und möglichst gering halten.

Hilf dir selbst, indem du anderen hilfst: Jede Unterstützung wird gebraucht.

„Wer einer Risikogruppe angehört, kann sich zum Telefondienst melden. Andere können zusätzlich praktische Dinge wie Einkäufe erledigen“, meint Popper. Jung & Alt sucht verstärkt nach neuen Mitarbeitenden, da man mit wachsendem Bedarf rechnet (weitere Informationen auf www.jungundalt.at). Für andere etwas zu tun und nicht nur an sich selbst zu denken, kann eine Strategie sein, das eigene Wohlbefinden zu steigern.

Bild 1 (Beitragsbild) © „Delft in tijden van Corona“ by Gerard Stolk, CC BY-NC 2.0.
Bild 2 © Verein Jung & Alt | Leonie Mayr

3 Kommentare

  1. Gerhard Kantor 6. April 2020 um 16:58

    Das ist ein sehr schöner Artikel.

  2. Anja Müller (Zivny) 7. April 2020 um 9:31

    Ja stimmt!

  3. Heidemarie Laimanee 7. April 2020 um 23:21

    Ja, ich hoffe sehr, dass diese Möglichkeit genützt wird.

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